Corona-Pandemie: Krise, Kapitalismus & Patriarchat, Klasse & Geschlecht, Revolution

Leseempfehlungen zur Analyse der aktuellen Krise und Praxis einer Revolutionären Linken.

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Im Folgenden dokumentieren wir außerdem Ausschnitte des Textes „Corona-Pandemie – eine historische Wende – Gesundheitswesen gesellschaftlich aneignen, Produktion kurzzeitig und geplant runterfahren!“ von den Autor*innen Verena Kreilinger und Christian Zeller. Der Text ist am 24. März 2020 erschienen. Den ganzen Text findet ihr hier.

1 Einleitung: Versagen der Regierungen – Selbstorganisierung vorbereiten

Eine historische Zeitenwende unabsehbaren Ausmaßes hat eingesetzt. Noch nie seit 1945 erlebten weite Teile der Bevölkerungen Europas einen derartigen Kontrollverlust und zugleich einschneidende Maßnahmen für ihren Alltag. Die Corona-Pandemie trifft zeitlich mit der beginnenden Wirtschaftskrise zusammen, die sich bereits vor Monaten ankündigte. Unsere Gesellschaften durchschreiten eine bislang unvorstellbare zeitliche und räumliche Verdichtung unterschiedlicher Krisen.

Wir erfahren den moralischen und politischen Totalbankrott des Neoliberalismus, der Regierungen und der EU. Die nationalen Regierungen in Europa und die EU standen Anfang Februar vor der Entscheidung: Wollen sie die Menschen in Italien und anderswo retten oder ziehen sie es vor, die Profite der Unternehmen zu garantieren und geopolitischen Interessen zu verfolgen. Sie haben sich so entschieden, wie das in einer kapitalistischen Gesellschaft naheliegend ist. Die Profite gehen vor. Das Resultat entfaltet sich nun. Sie und die ganzen Gesellschaften, wir alle, sind fortan Getriebene der Eigendynamik, deren Ausgang nicht absehbar ist. In mehreren Ländern Europas gelten Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren. Diese sind zur Sicherstellung der Gesundheit der Menschen einerseits richtig, zugleich ungenügend und mindestens eine Woche zu spät eingeführt worden. Andererseits gibt der von oben durchgesetzte Stillstand des öffentlichen und kommunikativen reproduktiven Lebens jenseits der Berufstätigkeit einen Vorgeschmack auf mögliche autoritäre Versuchungen bei anderen Krisen.

Wir zeigen in diesem Beitrag das schwerwiegende Versagen der europäischen Regierungen und insbesondere der EU auf. Bewusste Entscheidungen, Fehleinschätzungen und Versäumnisse führten dazu, dass Europa zum Epizentrum der Corona-Pandemie wurde. Die Regierungen und die EU sind nicht in der Lage, die für die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Sie können das nicht, weil sie sich dem Primat der Kapitalakkumulation und der Wettbewerbsfähigkeit unterwerfen. Anstatt die erforderlichen Einschnitte in alle Sektoren der Wirtschaft vorzunehmen, die für die gesellschaftliche Versorgung nicht notwendig sind, ziehen sie es vor, eine unbestimmte Anzahl Menschen sterben zu lassen. Auf der Grundlage dieser Diagnose stellen wir in diesem Beitrag zwei Thesen zur Diskussion.

Erstens argumentieren wir, dass die Coronakrise ein historisches Ausmaß globaler Reichweite annehmen wird. Die Gewissheiten, die unsere Gesellschaften seit 1945 kennen, werden der Vergangenheit angehören. Die anrollende Wirtschaftskrise wird brutale Verteilungskämpfe mit sich bringen und große geopolitische Verschiebungen begünstigen. Die Gesundheitskrise und die Wirtschaftskrise entwickeln sich im Kontext der sich rasch verschärfenden globalen Klimakrise. Das Zusammentreffen dieser Krisenprozesse wird zu überraschenden Brüchen, Einschnitten und Zusammenbrüchen führen und zugleich solidarische Verhaltensweisen hervorrufen und neue Widerstandspotentiale ermöglichen.

Zweitens trifft diese Krise auf politisch und organisatorisch komplett unvorbereitete emanzipatorische Bewegungen. Noch bis Mitte März haben viele kritische Zeitgenoss*innen die Corona-Krise ignoriert, verharmlost, sich lustig über besorgte Menschen gemacht und haben die Maßnahmen der Regierungen nur unter dem Blickwinkel individueller Freiheitsrechte betrachtet. Das sind unverzeihliche Fehler. Darum gilt es unter den derzeit erschwerten Kommunikationsbedingungen rasch eine Diskussion über eine umfassende ökosozialistische Perspektive aufzunehmen und konkrete organisatorische Projekte vorzubereiten. Die Gesundheit und das Wohl der Bevölkerung muss jetzt oberste gesellschaftliche Priorität sein. Zugleich gilt es bereits jetzt über die akute Gesundheitskrise hinauszudenken und sich für die folgenden ökonomischen wie politischen Verwerfungen vorzubereiten. Eine solidarische Praxis der Selbstorganisation eröffnet die Möglichkeit Prozesse und starke Bewegungen zur gesellschaftlichen Aneignung wesentlicher Bereiche der gesellschaftlichen Produktion und Infrastruktur zu initiieren.

[…] Die Corona-Pandemie und ihre Folgen werden die öffentlichen und politischen Debatten für lange Zeit bestimmen. Das bedeutet auch, dass die im vergangenen Jahr in den Fokus der Auseinandersetzungen gerückte Klimakrise ihre notwendige Aufmerksamkeit verlieren und der entscheidende Druck auf Politik und Wirtschaft ausbleiben wird. Doch die Klimakatastrophe schreitet voran – ungeachtet dessen, ob wir aufmerksam hinblicken oder mit anderen Krisen beschäftigt sind. Es ist Aufgabe emanzipatorischer Kräfte, die Zusammenhänge dieser und anderer Krisen deutlich zu machen, ihren gemeinsamen Nenner zu betonen und in programmatischen Vorschlägen zusammenzudenken. Die Corona-Krise weist einige Ähnlichkeiten mit der anziehenden Klimakatastrophe auf. In beiden Fällen hindert die Logik der Akkumulation, der Profimaximierung unter Konkurrenzbedingungen, die Regierungen daran, eine Gefahr abzuwenden. Sie handeln nicht angemessen, obwohl es zahlreiche Warnungen gab und weiterhin gibt, obwohl es technisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich möglich wäre, bewusst zu handeln und der Gefahr entgegenzutreten. Bei beiden Herausforderungen schwanken die Regierungen zwischen Verweigerung, Ignoranz und ungenügendem, bisweilen chaotischem Handeln. Das ist Aus-druck einer Politik, die sich in erster Linie an den Zwängen des Kapitals und nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientiert. Die Klimagefahr ist noch umfassender, globaler und ernster. Im Unterschied zu den aus der Erderhitzung erwachsenden Katastrophen vollzieht sich die Katastrophe der Corona-Pandemie zeitlich und räumlich extrem verdichtet.